Liebe Lesende
Da bin ich wieder mit meinem Sessionsrückblick – pflichtbewusst wie immer, seit ich 2019 in den Nationalrat gewählt wurde. Wie stets am letzten Tag der Session berichte ich Euch über die Geschäfte, die Vorstösse, aber auch über jene Szenen ausserhalb des Blickfeldes der grossen Bühne im Ratssaal.
Ich habe in der Nacht auf den ersten Sessionstag schlecht geschlafen – jener Tag, an dem in der Wintersession jeweils die Wahlen der Präsidien der beiden Kammern stattfinden. Da ich – wie Ihr ja wisst – vor einem Jahr mit der Wahl zur 2. Vizepräsidentin den Sprung ins Präsidium geschafft hatte, war zu erwarten, dass ich an diesem Montag usanzgemäss auf den Stuhl der 1. Vizepräsidentin nachrücken würde. Und trotzdem ist man unruhig: Man weiss nie, was geheime Wahlen bringen und ob «usanzgemäss» am Ende auch wirklich Bestand hat.
Nach wenig Schlaf bin ich also mit Sack und Pack wie immer bereits am Vormittag nach Bern angereist und hatte noch verschiedene Sitzungstermine, bevor um 14.30 Uhr die scheidende Nationalratspräsidentin Maja Riniker die Glocke läutete. Danach ging alles ziemlich schnell – und ich kann Euch (oder wohl eher mich selbst) beruhigen: Ich wurde tatsächlich «usanzgemäss» gewählt und mit Blumen zugeschüttet und überhäuft.
Der Blumenstrauss, den mir der neue Präsident Pierre-André Page überreichte, war so schwer, dass ich froh war, nicht gleich damit zu Boden zu sinken. Doch da mir gleichzeitig ein ebenso schwerer Stein vom Herzen fiel, hielten sich die Gewichte ungefähr die Waage.
Danach gab es einige Fotos und viele Gratulationen und in der Folge auch einige Medienberichterstattungen (u.a. bei der bz Basel und Radio Basilisk) … danach nahm die Session ihren gewohnten Verlauf.



Im Normalfall berichte ich Euch an dieser Stelle über einige wichtige Geschäfte, stelle die Pro- und Contra-Argumente sowie meine eigene Meinung dar, liste meine eingereichten Vorstösse auf und bringe den Bericht mit einem Schlusswort zu einem Ende. Nun fragt Ihr Euch sicher: Was heisst denn «im Normalfall»? Ich erkläre es Euch.
Während dieser Session – und mit meinem neuen Hut als 1. Vizepräsidentin – habe ich mir Gedanken darüber gemacht, was ich Euch berichten soll, wie dieser Rückblick in seiner Entstehungsgeschichte noch seinen Platz findet angesichts meiner zunehmenden Aufgaben und welches Ziel er eigentlich verfolgt bzw. wie er dieses Ziel erfüllen kann. Ich kam zum Schluss, dass über die Geschäfte im Ratssaal die Medien bereits zur Genüge berichten. Hier zum Beispiel der Überblick von SRF über die vergangene Session.
Darüber hinaus kann ich Euch jedoch von Dingen erzählen, die meinen Alltag während und ausserhalb der Session – im, um und ausserhalb des Bundeshauses – ganz persönlich prägen. Der Hintergrund soll in meinen Berichten ab sofort stärker in den Vordergrund rücken, denn das ist es, was Ihr in den Medien nicht nachlesen könnt. Das kann nur ich Euch berichten.
Was gab es da also?
Feier des Nationalratspräsidenten
Am Mittwochnachmittag der ersten Woche ging es nach Fribourg, um den frisch gewählten Nationalratspräsidenten an seinem Wohnort zu feiern. Natürlich war ich mit dabei. Doch nicht nur ich und all die Gäste des Präsidenten waren eingeladen: Auch zwei besondere Personen mit einer speziellen Aufgabe aus meinem Kanton bzw. meiner Gemeinde waren von A bis Z Teil der Feier – von der Fahrt mit dem Spezialzug bis zur nächtlichen Rückfahrt nach Bern (… und im Gegensatz zu mir danach natürlich weiter nach Basel).

Sie haben alles festgehalten, was ihnen auffiel: was gut lief und was man besser machen könnte, wer gesprochen und wer geschwiegen hat, wie die Leute im Umzug eingereiht waren und wer nicht nach Schema aufgestellt wurde. Und wer waren diese beiden? Es waren jene zwei Personen, die bereits daran sind, die Präsidialfeier vom 2. Dezember 2026 in Basel und Riehen zu organisieren – falls ich «usanzgemäss» am 30. November 2026 zur Nationalratspräsidentin gewählt würde.
Dieses Amt wäre nach 60 Jahren wieder im Kanton Basel-Stadt angesiedelt, und zudem wäre ich damit die erste Frau aus unserem Kanton in diesem Amt. Die Vorbereitungen laufen also – und wir dürfen alle gespannt sein. Einschliesslich mir.
Zwischen Politik und Privatleben
Und wisst Ihr was? Am nächsten Morgen ging es bereits um 7.00 Uhr mit der Ratsbürositzung los, bevor um 8.00 Uhr die Sessionssitzung wieder eröffnet wurde. Das ist übrigens etwas, das viele nicht wissen: Während der Session haben wir offizielle Sitzungszeiten. Doch davor, dazwischen und danach gibt es – zusätzlich zu den «freiwilligen» Anlässen – zahlreiche verpflichtende Kommissions-, Delegations- oder Geschäftsleitungssitzungen.
Differenzbereinigungen müssen früh am Morgen, über Mittag oder abends über die Bühne gehen, damit bis zum Ende der Session die Differenzen zwischen National- und Ständerat in einem Geschäft bereinigt sind und wir am allerletzten Tag darüber beschliessen können. Was ebenfalls viele nicht wissen: Die Sessionswochen sind eigentlich nur die Kür der Parlamentsarbeit. Die Pflichtübungen finden dazwischen statt.
In den zahlreichen Kommissionssitzungen bereiten wir hinter geschlossenen Türen alle Geschäfte vor, die dann während der Session beraten werden. Wir führen teils stundenlange Hearings mit Fachpersonen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung und ringen um Kompromisse, die für beide Räte tragfähig sind. Da wir alle auch in Parteien eingebettet sind und uns dort engagieren, fällt zusätzlich – und in den allermeisten Fällen ehrenamtlich – weitere Arbeit an, oft an Samstagen, Sonntagen oder abends. Familie und Freunde müssen dabei häufig zurückstehen.
Im letzten Wahlkampf in Riehen stand ich an einem Samstag mit Flyern auf der Strasse. Ein Passant schaute mich ganz konsterniert an und fragte: «Frau Christ, haben Sie eigentlich noch ein Privatleben?» Ja, Politik, Arbeit, Familie und Freunde unter einen Hut zu bringen, ist nicht immer einfach. Das engste Umfeld muss das mittragen – sonst wird es schwierig.
Dazu kommt, dass wir Politikerinnen immer öfter angegriffen werden: über unsere Social-Media-Kanäle, über in den Medien veröffentlichte Meinungen oder auch ganz direkt wegen eines konkreten, missliebigen Abstimmungsverhaltens. Man braucht einen kühlen Kopf, eine harte Schale, einen weichen Kern – und vor allem vertraute Personen.

Doch nun weiter zu dem, was es sonst noch zu berichten gibt:
Wir haben einen neuen Bundespräsidenten gewählt und sind zu seiner Feier nach Lausanne gereist und wieder zurück. Wir haben Bundesrichterinnen und Bundesrichter verabschiedet und neue gewählt. Wir haben uns bei der Budgetdebatte, bei der Beratung des Kartellgesetzes und des Kriegsmaterialgesetzes gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Dazu kamen ausserordentliche Sessionen – diese werden dann einfach noch in das bereits bestehende Sessionsprogramm integriert. Da wir dadurch in Zeitengpässe geraten sind, mussten wir zusätzlich eine zweite Open-End-Sitzung einfügen.
Trotz allem gab es auch einige «Inseln». Am Wochenende nahm ich mir jeweils Zeit für die Familie und natürlich auch für den Haushalt – denn die Wäsche, die Einkäufe und die Rechnungen erledigt leider auch dieses Jahr nicht das Christkind für mich. Es blieb aber auch Zeit für den Weihnachtsmarkt, für Museen und für Freunde. Zudem bekam ich Familienbesuch in Bern. Das tat gut und hat meine Batterien immer wieder aufgeladen.
Neue Rolle, neue Aufgaben
Ich versuche, mich langsam, aber sicher in meine neue Rolle als erste Vizepräsidentin einzuleben. Stets bereit, bei Bedarf sofort für den Präsidenten einzuspringen und auf dem «Bock» den Rat zu leiten. Entsprechend wird es von mir künftig etwas weniger Vorstösse geben, und meine politische Arbeit findet wohl vermehrt im Hintergrund, in den Kommissionen, statt.
Eine Interpellation habe ich jedoch aus dem Blickwinkel eines Grenzkantons wie Basel-Stadt zum Thema «Bahnausbau» eingereicht (Welchen Stellenwert haben Grenz- und Ballungsräume im Bericht «Verkehr 45»?) Die bz hat darüber berichtet: Nationalrätinnen aus beiden Basel machen Druck für S-Bahn-Ausbau

Mehr in den Vordergrund rücken werden hingegen Begegnungen mit spannenden Persönlichkeiten, das Mittragen besonderer Projekte oder auch Reisen in andere Länder. Es wird also nicht weniger spannend sein, sondern etwas weniger parteipolitisch und dafür mehr «staatsfrauisch» – oder wie nennt man eigentlich das weibliche Pendant zu «staatsmännisch»?
So habe ich mit dem neuen Amt als erste Vizepräsidentin während der Session noch ein weiteres «Ämtli» übernommen. Ich wurde als Stiftungsrätin in die Schweizerische Pfadistiftung gewählt. Dazu konnte ich einfach nicht Nein sagen, denn die Pfadi ist seit meiner Kindheit – über meine eigenen Pfadijahre bis zu den heutigen Pfadierlebnissen meiner beiden Kinder in Leitungsfunktionen – eine echte Herzensangelegenheit.Ich freue mich sehr, Teil dieses Stiftungsrats zu sein, und auf meine neue Aufgabe!
In diesem Sinne wünsche ich allen eine erholsame Weihnachtszeit und einen guten Start ins Jahr 2026.
Stay tuned …



